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Alt 17.08.2013, 23:11
Benutzerbild von benekalice
benekalice benekalice ist offline
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Registriert seit: 06.05.2008
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Standard Ein sehr guter Artikel

In Ägypten hat die Demokratie keine Chance

Der Westen verurteilt das Vorgehen des Militärs und warnt vor weiterer Gewalt. Ändern wird das nichts. Manchmal ist ein Bürgerkrieg notwenig, um die verfeindeten Lager zur Einsicht zu bringen. Von Jacques Schuster
Als die Demokratie noch eine Chance zu haben schien: Präsident Mursi im vergangenen Dezember vor dem Oberhaus des ägyptischen Parlaments in Kairo
Foto: REUTERS Als die Demokratie noch eine Chance zu haben schien: Präsident Mursi im vergangenen Dezember vor dem Oberhaus des ägyptischen Parlaments in Kairo

Um es gleich am Anfang zu sagen: Jeder Tote in Ägypten ist einer zu viel. Die Gewalttaten in diesem Bürgerkrieg sind eine Tragödie – ob es sich um ein Massaker an Muslimbrüdern handelt oder um von Muslimen ermordete Christen, die ihre in Brand gesteckten Kirchen retten wollten. Jeder darf darüber erbost sein und nach dem Ende der Bluttaten rufen.

Gilt das Recht auf Empörung auch für die Politik? Jeder Politiker kann und soll menschliche Regungen zeigen – einerseits. Andererseits ist es nie klug, sich den ersten Gefühlsaufwallungen hinzugeben. Diplomaten regen sich nicht auf, sie machen sich Notizen. Die Worte mögen kalt klingen, besonders wenn in Kairos Straßen Schüsse fallen, doch sie sind das Ergebnis von Erfahrungen. Freilich werden sie in jüngster Zeit immer häufiger missachtet.

Zum einen führt das "Fratzeschneiden im Spiegel der öffentlichen Meinung" (George Kennan) dazu, dass die Außenpolitiker aufflackernden Stimmungen folgen, nur um die Wähler zu befriedigen. Zum anderen sind sie schnell bereit, die Werte und Regeln ihrer Gesellschaft zu Naturgesetzen zu erheben, die in allen Ecken und Enden der Welt gültig seien.

Der Westen kann kaum noch Einfluss nehmen

Die Folge davon ist eine Phrasenpolitik, die nichts enthüllt außer die eigene Unkenntnis und Hilflosigkeit. Am liebsten möchte man den Hitzköpfen mit Gottfried Benn sagen: "Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen." Man kann den Appell aber auch allein auf Ägypten beziehen: Gegenwärtig bleiben dem Westen nur wenige Möglichkeiten, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Außerdem lässt sich die Lage kaum übersehen. Deshalb – wartet ab und trefft keine voreiligen Entscheidungen.

Anders die europäischen Außenminister. Sie schicken sich an, die ägyptische Armee zu verurteilen und die Hilfen für das bitterarme Land einzustellen. Darüber hinaus fordern sie von allen Beteiligten, einen Weg einzuschlagen, der in der Demokratie mündet.

Schön wäre das: ein Ägypten mit Ober- und Unterhaus im Stil der britischen Demokratie. Oder darf es ein Präsidialsystem nach französischem Vorbild sein? Die Frage mag man als Polemik werten oder auch nicht. Zwei Wahrheiten und eine Lehre aber sollten bedacht werden, wenn es um Ägypten geht. Zunächst die Tatsachen: Erstens: Es gibt keine demokratische Bewegung in Ägypten. Zweitens: Es gibt nicht einmal Liberale im klassischen Sinn. Sie aber sind die Stützen der Demokratie.

Es gibt so gut wie keine Liberalen am Nil

Zwei große Blöcke stehen sich feindselig gegenüber: die Armee und die Muslimbrüder. Keiner von ihnen hat je an die Demokratie geglaubt. Während die Generäle seit dem Sturz der Monarchie 1952 an den Schalthebeln der Macht sitzen und dafür streiten, auch dort zu bleiben, haben die Muslimbrüder unter dem frei gewählten Präsidenten Mursi alles getan, Ägypten in einen Gottesstaat zu verwandeln. Wer von beiden Lagern wird in dieser Situation ernsthaft für demokratische Verhältnisse streiten? Vielleicht die kleine dritte Gruppe, die sich liberal nennt?

Der Liberalismus ist ein Kind der Aufklärung. Er keimte auf und gewann an Kraft, als die Menschen begannen, sich gegen die Herrschaft der Fürsten zu schützen. Das Recht und die Freiheit des Einzelnen gegen die Macht des Staates – das sind die Säulen des Freisinns in einer bürgerlichen Gesellschaft.

Ägypten fehlen sie! Zwar finden sich auch am Nil Menschen, die sich liberal wähnen, doch gleichen sie eher dem Bourgeois, nicht dem Citoyen. Ihre Anfänge liegen nicht im beginnenden Wohlstand eines wirtschaftlich erstarkenden Bürgertums und dessen Wunsch nach Freiheit. Vielmehr entstammen ihre ersten Vertreter der Beamtenschaft, die im Staatsdienst zu Geld gekommen ist und die Gesellschaft mithilfe eben dieses Staates modernisieren wollte.

Auch Europa musste durch Bürgerkriege gehen

Der ägyptische Politikwissenschaftler Samuel Tadros weist darauf in seinem jüngsten Buch "Motherland Lost" etwas pathetisch, aber zutreffend hin: "Das ägyptische Bürgertum entsprang dem Busen des Staates, nährte sich an den Einkünften seines Patronagesystems und blieb stets von der Staatsgewalt abhängig."

Darin liegt eine der Hauptursachen dafür, dass die Liberalen heute aufseiten des Militärs stehen. Mit ihnen ist keine Demokratie zu machen. Und selbst wenn, so sind sie zu schwach an der Zahl, um eine Volksbewegung zu werden – noch.

Womit wir bei der oben erwähnten Lehre wären. Ist ein Bürgerkrieg nicht manchmal notwendig, um zu den richtigen Einsichten zu kommen? Ist der Augsburger Religionsfrieden 1555 ohne die Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten denkbar?

-------------------->>>>>>>>Was wäre Englands Demokratie ohne die "Glorious Revolution"? -----------------------------> Was die Türkei ohne Atatürks brutalen Bruch mit der Vergangenheit? Ob es gefällt oder nicht: In der Geschichte ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten oft der Umweg.


die welt
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